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Über Fotografie

:sichtbar machen: (Artist Statement)

:sichtbar machen:

:sichtbar machen: ist schon seit langem mein Motto.

Allen meinen Arbeiten zugrunde liegt der Wunsch, den Betrachter zu (ver)führen: zu einer neuen, oder erneuerten Sensibilität der ästhetischen Erfahrung.

Für mich selbst bedeutet :sichtbar machen: vor allem, ständig selber sehen zu lernen. Robert Frank sagte: "The eye should learn to listen before it looks" . In Konsequenz heißt das, meine üblichen Sehweisen und Konzepte kontinuierlich in Frage zu stellen und zum Westentlichen vorzudringen.

Ich nutze oftmals bewusst traditionelle Bildsprachen, um die Betrachter abzuholen und anzusprechen. Was mich aber eigentlich interessiert, sind die Zwischenräume. Sie entstehen zwischen meinen Bildern und Ideen von Kunst und Fotografie, und dem, was eine Betrachterin erlebt. Was geschieht in diesem Raum , in diesem Prozess? Wie verändern sich, wenn auch nur subtil, die Erfahrungsrahmen eines Menschen, der bereit ist, sich auf einen tieferen Blick einlassen?

Denn das ist es, wozu ich einlade.

Ein gutes Bild

Ein gutes Bild

Fotografie ist oft nur die Projektion unserer bereits bestehenden Vorstellungen von Ordnung, Schönheit, Bedeutung, Zusammenhängen. All unsere mentalen Konstrukte davon, was ein "gutes Bild" ist: romantische Landschaften in geheimnisvollem Licht, ein strahlendes Lächeln, Sozialfotografie in harten Schwarzweiss-Kontrasten, gefilterte Instagram-Post oder die künstlerisch wertvolle Tristesse von Suburbia in pastelliger Überbelichtung (Großformat). All das sind mehr oder weniger modische Topoi, Stile, Vorlagen, mit denen wir uns die visuelle Welt zu Eigen machen wollen.

Mustererkennung ist unser evolutionäres Erbe, entsprechend unsere Befriedigung, wenn wir ein dem Muster entsprechendes tolles Bild gemacht haben.

Spanend wird es für mich an den Grenzen, den Rändern, an denen die fest gefügte Welt ausfranst in das Chaos des Seins in Mehrdeutigkeit, poetische Neuinterpretation

Flüchtige Bilder

Flüchtige Bilder

Fotografie ist, genauer betrachtet, etwas Eigenartiges: Aus dem oft verwirrenden Eindrücken unserer Existenz stanzt sie in Sekundbruchteilen Momente heraus, die wir benutzen, um etwas zu "verewigen". Analog zum menschlichen Geist, ähnlich unseren Erinnerungen und den Geschichten, die wir uns erzählen, scheint sie der Flüchtigkeit des Seins Dauer und Stabilität zu geben.

Gegen diese Täuschung ist nichts einzuwenden. Aber können wir Fotografien davon befreien, dass sie Erinnerungen "festhalten"? Indem wir uns bewusst bleiben, wie einmalig kostbar und flüchtig jeder Moment ist, gerade weil er nicht von Dauer ist?

Rahmen

Rahmen

Fotografie ist immer die Erschaffung von Begrenzungen, zeitlicher und räumlicher Art, aber auch perzeptiv und interpretatorischer. Sie zeigt nur Ausschnitte einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit.
Wir denken, nehmen wahr, sprechen und handeln in Rahmen (Frames), von Konstrukten. Sie geben unseren Erfahrungen der Wirklichkeit Grenzen, Gestalt und Kohärenz. Nur so sind wir handlungs- und kommunikationsfähig.
Diese Begrenzungen sind jedoch auch Einengungen, die wir zumeist gar nicht selber spüren. Aber wenn wir dem Anderen begegnen, wird uns manchmal klar: Das ist nicht alles.
Wie kann ich eine fotografische Wirklichkeitserfahrung anbieten, die vielschichtig und offen ist, begrenzende Konzepte bewusst macht, vielleicht sogar zu transzendieren hilft?

Projekte und Bücher

Eis

Eis

Wenn ich die Natur beobachte, bin ich fasziniert von den Transformationen und Veränderungen, besonders von den Grenzbereich, dem Dazwischen. Aus wirbelndem Chaos entstehen Formen, Strukturen, Rhythmen oder Muster bilden sich aus.

Ebenso bin ich von den Prozessen angezogen, in denen scheinbar Festes auseinander bricht, schmilzt, sich auflösend in Bewegung kommt. Das Erstarren, Tauen und erneute Erstarren von Wasser und Eis ist einer der schönsten Übergangsprozesse der Natur. Sie erschafft ein endloses Feld von Formen und Strukturen: kristallin, amorph, hart und flüssig, matschig, tropfend, verkrustend...

Ich habe diese Bilder an den Grenzen zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion gefunden. Werden sie meditativ betrachtet, können sie das Feld unserer Wahrnehmung öffnen. Bilder, Metaphern, Gefühle und Gedanken dürfen entstehen und wieder vergehen.

Welche Spuren werden sie hinterlassen?

"Form und Verwandlung" (Begleittext zur Ausstellung)

Form und Verwandlung

Formen und Verwandlung sind zwei der wichtigsten Pole meiner künstlerischen Arbeit. Nicht nur alles Leben durchläuft die Entstehung, Verwandlungen und Auflösung von Formen. Der ganze Kosmos verwandelt sich ständig. Unendliche Ketten von Ursache und Wirkung, Werden, Verwandlung, Vergehen und neuem Werden wirken seit Anbeginn der Zeit. Heraklit formulierte es als Paradox: Nichts ist so beständig wie der Wandel".

So großartig angelegt sind die Fotografien meiner Ausstellung natürlich nicht. Ausgesucht sind sie aus mehreren Serien - beispielsweise zu Eis, Sand, Wasser oder Wald. Allen gemeinsamist, dass sie sich inhaltlich und formell immer wieder beschäftigen mit Fragen nach der Entstehung und Wandlung von Form, Struktur und Gestalt.

Fotografie ist, genauer betrachtet, etwas Eigenartiges: Aus dem oft verwirrenden Eindrücken unserer Existenz stanzt sie Momente, Ausschnitte, Blickwinkel heraus. Analog zum menschlichen Geist, ähnlich unseren Erinnerungen und den Geschichten, die wir uns erzählen, scheint sie der Flüchtigkeit des Seins Dauer und Stabilität zu geben. Das ist eine der Ebenen meiner, vielleicht auch unserer Wahrnehmung dieser Bilder: Versinn-bildlichung und Sichtbar-Machen immer wiederkehrenden Prozesse, direkt und auch metaphorisch.

Bider wirken auch auf ästhetischer Ebene - das kann durchaus ganz konkret körperlich sein. Aus der Wahrnehmungspsychologie sind die positiven Wirkungen von Naturbildern wohlbekannt - im Sinne von Wohlbefinden, Stressreduktion und Wiederherstellung einer "natürlichen" Aufmerksamkeit.

Besonders die grundlegenden fraktalen Geometrien der Natur scheinen einen solchen wohltuenden Einfluss auszulösen. Genau mit diesen Formen aber beschäftige ich mich; Assoziationen zu Strömungen der Kunst wie Action Painting, Informel und Tachismus sind nicht zufällig, denn auch sie greifen diese Themen auf  .

Wasser ist unsere Metapher schlechthin für Verwandlung, Fluss und stete Wiederkehr. Schneller als wir sehen können bilden sich aus chaotischem Durcheinander Strömungen, Wellen und fraktal geordnete Strukturen - und vergehen ebenso schnell wieder. Vieles davon wird erst fotografisch sichtbar, denn es ist zeitgebunden. Strömung wird angehalten, erstarrt im Wimpernschlag der Belichtungszeit oder verwischt zu tachistischen Bildern, wenn ich die Zeitskala verändere. Was dabei an Bildern entsteht, ist ein seltsam vorhersehbarer Zufall, entstehende Ordnungen sind fraktal. Nur die groben Formen lassen sich nur erahnen. Details sind höchstens selbstähnlich.

Was ich hier so mathematisch beschreibe, ist ästhetisch oft sehr reizvoll. Auf dieser Ebene fasziniert mich die Frage danach, wo Form und Gestalt - eben ein Bild - entsteht. Genauer gesagt entscheide ich das, denn aus den vielen Bildern, die ich im Laufe von Jahren im Wasser fotografiert habe, treffe ich natürlich eine Auswahl.

Dabei ist es meine Absicht, möglichst "offene Räume" für den Betrachter zu schaffen. In der Abstrahierung, der Reduktion auf Farben und Formen wird aus so etwas Konkretem wie einem Bach etwas - ja was? Vielleicht eine Einladung zur Kontemplation, zum Stillwerden des Bicks, zum Sich-Einassen auf Schauen und Entdecken. Nicht zweckgebunden, nicht dem begreifenden Blick zugänglich, und ohne meine Absicht, etwas Bestimmbares abzubilden.

Auf der anderen Seite gibt es auch ein Entgegenkommen, ein Spiel mit Doppeldeutigkeiten, halb Erkennbarem, Assoziationen, dem Rohrschach-Test der Pareidolie. "Das sieht ja aus wie"... "Also ich sehe da...".

So gelingt mir - das hoffe ich zumindest - auch die Verknüpfung zu anderen Formen der Verwandlung. Eis zum Beispiel, wo sich durch den Phasenübergang von flüssig zu fest kristalline Strukturen bilden. In der Bildern mit eingefrorenen oder auftauenden Pflanzenresten treten andere Metaphern in den Vordergrund - die Zyklen der Jahreszeiten.

Ganz anders die Zyklen der Gezeiten, den eigentlichen Schöpfern der Bilder der Sandbänke und Strände. Wasser und Wellen, Wind und Sand verschmelzen hier in ständiger rhythmischer Neuschöpfung und Zerstörung.

Schließlich noch meine Bilder von Pflanzen. Nicht die mathematisch-geometrischen Formen von Blüten habe gewählt, sondern halb wilde, chaotische Strukturen. Durch die Anwendung von Negativ-Umkehrungen und Tonwertmanipulatioen gehe ich von vertrauten Formen und Bildern über ins ins mystisch-magische Reich unserer Phantasien, unserer sozialen Psyche, ihren Märchen und Geheimnissen.

Denn Selbst-Verständlich sind unsere Erzählungen über uns selbst als menschliche Wesen untrennbar verknüpft mit den Erfahrungen von Verwandlungen, die wir in der Natur vorfinden.

zeitspur

zeitspur

"zeitspur" erforscht fotografisch, den Themenkomplex "Vergessen und Erinnerung".

Dabei arbeite ich mit Strukturen, die aus der Auflösung von Bildern entstanden sind. Konkretes Ausgangsmaterial sind Glasplatten-Negative aus den 30er Jahren (aus Familienbesitz), die durch Hochwasser stark beschädigt wurden.

Das Projekt ist keine Dokumentation, sondern arbeitet vordergründig auf ästhetischer Ebene; die auf mikroskopischen und makroskopischen Aufnahmen sichtbar gemachten Details des Zerfalls sind abstrakt, visuell faszinierend und vielschichtig evokativ.

Metaphorisch sichtbar wird eine biografische Ebene. Wie erschaffen Bilder unsere familiären und persönlichen Erinnerungen, wie entstehen unsere Geschichten, und was alles geht im Lauf der Zeit verloren?

Verstörend hingegen soll der zeitgeschichtliche Inhalt eines Teils der Bilder sein. Im Fotoalbum meiner Familie finde ich die typischen Fotos von Ausflügen, Hochzeiten, Kindern. Wie selbstverständlich erscheinen jedoch auch Bilder von Parteiversammlungen der NSDAP, Kameradschftsabenden sowie Passbilder von SA-Leuten.

Sie unterliegen dem gleichen Verfall wie die "offiziellen", in Fotoalben aufbewahrten Bilder meiner Familiengeschichte. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen diesen "Psalimpsesten des Zerfalls" und dem ursprünglichen Kontext der Bilder - es sei denn wir konstruieren ihn.

Machandel

Machandel

Fabelwesen tauchen aus dem Morgennebel auf: Ein zotteliges Fell und enorme Hörner kennzeichnen sie als Schottische Hochlandrinder. Ganzjährig beweiden sie den Wacholderhain der Haselünner Kuhweide im Emsland. Das in einer Flussschleife der Hase gelegene Naturschutzgebiet ist ein Ort, der im Frühnebel noch geheimnisvoller wirkt.

Zuerst sind die Wacholder nur schemenhaft erkennbar, als einzeln aus den Nebel ragende Silhouette. Doch bald werden ganze Hecken und Wäldchen erkennbar. In ihnen ist der Wacholder zu knorrig verwachs­enen Büschen und Bäumen herangewachsen. Zwischen den sandigen Hügeln, auf denen der Trockenheit liebende Wach­older gedeiht, liegen sumpfige Altarme der Hase.

Der dunkle Wacholder benötigt viel Licht zum Überleben. Das ist auch der Grund dafür, dass eine Rinderherde (und eine Pferdeherde aus Tarpanen) in dem Naturschutzgebiet weiden darf. Sie halten das Areal frei von Verbuschung durch Birken, Schlehen oder Eichen. In deren Schatten könnte der Wacholder nicht überleben. Den stachligen Wacholder aber fressen die Tiere nicht. So ist der Wacholderhain entstanden. Er war jahr­hunderte­lang die gemeinsame Hute der Hase­lünner Acker­bürger.

Leider vermehrt sich der Wacholder in Deutschland nicht mehr durch Sämlinge, sondern nur durch die Austriebe alter Pflanzen. Dabei setzen die Wacholder noch immer reichlich die blauen Wacholderbeeren an – eigentlich sind es Zapfen. Aus ihnen wird Wacholderschnaps, Gin oder Jenever gewonnen.

Doch in diesem Projekt geht es nicht um den Wacholderhain von Haselünne, sondern um den Machandel. Das ist der niederdeutsche Name für den Wacholder. Manchem bekannt ist er aus dem düsteren Märchen „Von dem Machandelboom“, vom Maler Philipp Otto Runge als Grimm'sches Märchen gesammelt. Ein ermordetes Kind wird von seiner Stiefschwester unter einem Wacholder begraben, verwandelt sich in einen Vogel und wird wieder Mensch.

Schon in vorchristlicher Zeit wurde der immer­grüne Wacholder mit Tod und Wiederauferstehung in Verbindung gebracht. Er galt als das Tor zwischen Leben und Tod. Selbst halb zerborstene Stämme können neu austreiben. Lange war er der typische Friedhofsbaum.

Magisch und dunkel geheimnisvoll erscheint uns der Wacholder noch heute. Besucher des Wacholderhains treten ein in eine Anderswelt. Die Wacholder wachsen in seltsam verschlungenen Formen, und erscheinen der Welt der Mythologie und Märchen eher zugehörig, als dem Heute.

Diesen geheimnisvoll-dunklen Aspekt des Machandel mache ich sichtbar, indem ich die Tonwerte der Fotografien ins Negativ umkehre und die Bilder geschickt manipuliere. Eine "verkehrte" Welt eben. Gleichzeitig werden durch diese Abstraktion die ungewöhnlichen Wuchsformen des Wacholders betont. Diese Ver­frem­dung lässt uns genauer Hinschauen; wie Zeichnungen aus der Zeit der Romantik wirken diese Studien von Formen, Linien und Texturen.

Reise

Pantelleria (1986)

Pantelleria - Tochter des Windes

Die Straße durch das Dorf Sibà mit seinen Häusern aus schwarzem Stein mit den weißen Kuppeln auf dem Dach wandelt sich bald zum Schotterweg, dann zum Maultierpfad. Schließlich ist nur noch ein Fußweg übrig, der durch Unmengen blühender Blumen führt. Über uns ragen Felsen, wie überall auf der Pantelleria von bunten Flechten überkrustet, dazwischen Feigenkakteen, Macchia, alte Mauern, halbkugelig wachsende Wolfsmilchgewächse. Auf der anderen Seite des Pfades ein steiler Abhang, teilweise bebaut mit Weingärten, deren Terassen tief unter uns in die Ebene von Monastero übergehen - ein Mosaik von Feldern, von Steinmauern durchzogen. Dahinter, von einer Anhöhe halb verdeckt, der Ort Scauri, direkt über dem Meer. das sich blau und silbern und unbewegt bis zu einem dunstigen Horizont erstreckt, an dem die Küste Tunesiens sich eher ahnen als sehen läßt.

Schließlich führt der Pfad zu unserem Ziel, dem Eingang einer Höhle, bekannt als bagno asciutto. Was das mit dem "trockenen Bad" auf sich hat, können wir nun selbst feststellen: die Höhle ist eine veritable Sauna, erhitzt durch heißen Dampf aus dem Inneren der Montagna Grande. Leise leise fauchendtrömt er aus Felsritzen und erinnert uns daran, dass die gesamte Insel vulkanischen Ursprungs ist.

Am Tag unserer Ankunft hatte uns die Stadt Pantelleria zunächst überhaupt nicht gefallen: Betonblocks dominieren das Bild, schäbige Mietskasernen. 1943 leitete die Bombardierung Pantelleria die alliierte Invasion Italiens ein. Gut 6900 Tonnen Bomben wurden abgeworfen, danach war von der alten Stadt nur noch einen Schutthaufen übrig. Lediglich die mittelalterliche Festung mit ihren düsteren, abweisenden Mauern beherrscht wie eh und je den Hafen.

So waren wir froh, als uns im Pro Loco, dem Fremdenverkehrsamt, ein dammuso, ein inseltypisches Haus, in einem kleinen Ort vermittelt wurde. Am nächsten Tag hatten wir den zögerlichen Frühling in Deutschland und die lange Anreise schon fast vergessen. Noch hatte der Sommer nicht begonnen, aber gegen Mittag war seine Hitze schon zu ahnen, wenn den Steinen am Wegrand ein Hauch von Schwefel entströmet, der sich seltsam mit dem allgegenwärtigen Duft der Blumen und Kräuter mischt.

Die Stille, die wir gesucht haben, war  greifbar geworden. In Mueggen, unterhalb der bewaldeten Hänge von Montagna Grande und Monte Gibele gelegen, ist die Zeit schon vor Jahrzehnten stehengeblieben. Da sind die letzten Bewohner des Dorfes näher an die Küste gezogen. Seither werden die Häuser hier nur noch manchmal zur Erntezeit bewohnt. Dadurch ist ein Stück ganz ursprüngliches Pantelleria erhalten geblieben. Auf jedem dammuso wölben sich noch die Kuppeln, die den kostbaren Regen auffangen und in die Zisterne leiten. Früher war das die einzige Quelle von Trinkwasser, ganz Pantelleria hat keine Süßwasserquellen. Heute können es sich nur wenige noch leisten, solch ein Haus zu bauen, mit meterdicken Mauern aus handgehauenen Lavasteinen, die die Sommerhitze abhalten, der Winterkälte den Einlaß verwehren. Aber die dammusi geben der Landschaft noch immer ein nordafrikanisches Gepräge.

Wie sie erinnern auch viele Ortsnamen an die Besiedelung Pantellerias durch die Araber: Sibà, Bugeber und Rekhale, Ghirlanda und Kattibugal. Und auch der Name der Insel ist arabisch: Bint al-aryāḥ, die Tochter des Windes. Ganz deutlich schmeckt man die Nähe Tunesiens in der Küche. Die Sauce aus Napfschnecken, zur Pasta gereicht, ist eine Spezialität, auch L'Ammogghiu, eine Sauce aus sehr viel Knoblauch, Petersilie und frischen Tomaten, die sowohl zur Pasta als auch zum Fisch gereicht wird. Beliebt ist auch  Couscous, mit Fisch und Gemüse statt mit Hammelfleisch zubereitet.

Mit tumma, einem lokalen Frischkäse, werden die ravioli amari gefüllt, Teigtaschen, denen ein Pfefferminzblatt die rechte Würze gibt. Sie werden mit einer Fleischsauce gereicht. Eine süße Variante davon sind die beliebten ravioli dolci.

Dafür, daß all das gute Essen nicht ansetzt, ist allerdings gesorgt. Es gibt genügend zu entdecken, zum Beispiel die zerklüftete Küste von ungefähr siebzig Kilometern Länge, voller bizarrer Lavaklippen und Grotten, paradiesisch für Schnorchler. Am anziehendsten finden wir die Ostküste Pantellerias, ursprünglich und nicht vom Betonklotz-Tourismus geschädigt wie die Westseite der Insel. Kleine Kostbarkeiten reihen sich wie Perlen hintereinander. Die größte unter ihnen ist Specchio di Venere, ein stiller Kratersee, der umkränzt von fruchtbaren Feldern und Weingärten unterhalb des Dorfes Bugeber liegt. An windstillen Tagen spiegelt sich das Dorf und die Berge ringsum in seinen heilkräftigen Wassern, die aus heißen und leicht schwefligen Quellen gespeist werden. An seinen Ufern findet man feinkörnigen Strand. Der Schlamm aber, in den man an einigen Uferstellen einsinkt, lässt sich hervorragend als Fango nutzen.

Selbst im Winter kann man auf Pantelleria Badefreuden genießen: in einer der zahlreichen Thermalquellen - ein unbezahlbares Naturerlebnis. Am schönsten - und auch am saubersten - fanden wir die heißen Quellen von Gadir, einem winzigen, abgelegenen Fischerort. Mitten zwischen wild zerklüfteten Lavafelsen entdecken wir ein Becken, mit wohlig warmem Wasser aus dem Bauch Pantellerias gefüllt. Daneben befindet sich eine "Badewanne", deren Wasser wir frisch gekocht, aber herrlich entspannt entsteigen.

Das einfache, fast archaische Leben auf Pantelleria ist nicht einfach. Aber es ist größtenteils noch bestimmt von den natürlichen Rhythmen des Sonnenauf- und Untergangs, von der Hitze des Sommers, der Weinlese im Herbst, den Stürmen im Winter. Diese Atmosphäre scheinen auch einige prominente Italiener zu schätzen, die sich hier angesiedelt haben, Journalisten, Modemacher und Künstler. Im Sommer allerdings überflutet eine Welle von italienischen Urlaubern aus Palermo und Neapel, aus Rom und Mailand die Insel, belegt jeden Hotelplatz, jedes der dammusi. Nach etwa vierzig Tagen, Ende August, ist der ganze Trubel vorbei, die Insel versinkt wieder in ihren gewohnten Schlaf.

Wo immer wir auf unsern Streifzügen über die Insel auf Menschen treffen, nimmt man sich noch Zeit für einen freundlichen Gruß, und die Frage, wie uns Pantelleria gefällt, ist fast immer die Einladung zu einem kleinen Schwätzchen, zu einem Kaffee oder einem Schluck Wein. Zu probieren gibt es dann so einiges, verschiedene, meist trockene Rot- und Weißweine, mit unerhörten Alkoholkonzentrationen, und vor allem gibt es den moscato. Für diese teuer gehandelte Spezialität der Insel werden die Zibbibo-Trauben für einige Zeit zum Trocknen ausgelegt, bevor sie gekeltert werden. Aus dieser uva passita entsteht dann der moscato passito, ein bernsteinfarbener, sehr aromatischer Likörwein mit beinahe sechzehn Prozent Alkoholgehalt.

All diese Weine zu kosten bringt einen Mitteleuropäer dann doch in Schwierigkeiten, die von so manchem panteskischen Winzer nicht leicht verstanden werden können. Elf Hektoliter von dem guten Roten habe er im letzten Jahr produziert, erzählt mir Giovanni, ein Winzer aus Sibá, bei einer dieser unverhofften Weinproben, "und alles für den Hausgebrauch." Und auf mein offenbar etwas erstauntes Fragen, wie man so viel Wein konsumieren könne, erwidert er nur: "Bottiglia per bottiglia!" - Flasche für Flasche. Bei Wein, Brot, dicken grünen Bohnen und pecorino erzählt er mir von den Problemen, mit denen die Bauern Pantellerias zu tun haben: der Trockenheit und dem Wind. Gegen die Trockenheit kann nur wenig getan werden, die Nähe Afrikas macht sich bemerkbar, mit glühender Hitze im Sommer und durchschnittlich fünf Regentagen von Anfang Mai bis Ende September. Und das salzige Grundwasser macht künstliche Bewässerung unmöglich.

Der größte Feind der Reben aber ist der Wind, der außer im Sommer fast ständig weht, vor allem im Winter oftmals zum Sturm wird. Ihre Weingärten müssen die Pantesken daher durch Mauern schützen. Terasse um Terasse ziehen sie sich die Hügel entlang, und in den Tälern bilden die Felder einen bunten Teppich, mit vielen Reihen von Reben, in Mulden gepflanzt und niedrig gehalten. Lavoro sull' quatro piedi, Arbeit auf allen Vieren, nennen die Pantesken ihre mühselige Arbeit in ständig gebückter Haltung. Lohnender, aber ebenfallsmühsam, ist der Anbau von Kapern. Capperi di Pantelleria sind von einer gesuchten Qualität, "die beste der Welt", wie Giovanni stolz behauptet. Ein Antipasto aus Liliputkapern - je kleiner die Kaper, desto besser die Qualität- könnte wohl jeden Zweifler zur gleichen Überzeugung bringen.

Viele der schönsten Stellen der Insel sind nur mit dem Jeep oder zu Fuß zu erreichen. Aber das ist sowieso die beste Methode, sich der Insel und ihrem langsamen Pulsschlag anzunähern: auf holprigen Maultierpfaden, blumen- und distelgesäumten Feldwegen wandern, sich ein wenig zwischen den vielen Steinmauern verirren, gerade wenn man meint, eine Abkürzung gefunden zu haben...

Einer der schönsten Wege ist der von Tracino auf der Ostseite nach Rekhale im Südwesten der Insel, über den Pass hinweg, der zwischen der Montagna Grande und dem Monte Gibele gelegen ist. Auf dem Gipfel des Monte Gibele liegt uns die ganze Insel zu Füßen. Ringsum nur Blau, Himmel und Meer und Wind, ursprüngliche Leere. Mitten darin ruht dieser Brocken Lava, ausgespieen, zerrissen und wieder geformt von gewaltigen Kräften. Darauf die Spuren der geduldigen Arbeit der Menschen, buntfleckig, rötlich, wo das Land bebaut wurde, grün die Macchia und das Brachland, schwarz geädert von Mauern und Wegen, weiß und schwarz dazwischen gesprenkelt die Kuppeln und Kuben der dammusi.

Linosa (1988)

Linosa

"Uno - due - tre - TIIIRA" - und alle stemmen sich mit voller Kraft nach hinten, zerren an der Vertäung der Boote, um sie vor dem kochenden Meer in Sicherheit zu bringen, die Schräge der "scala nuova" im Hafen von Linosa hinauf. Dann flüchten wir vor dem erzürnten Sturm, der jeden mit salziger Gischt bespritzt, zurück in die Bar von Rosa.

Die kleinen Wölkchen am Morgen waren also doch Anzeiger für den Scirocco gewesen. Und da man im ungastlichen Heulen und Klappern dieser Nacht nirgendwo hingehen kann als in Rosas Bar am Hafen - der einzigen, die geöffnet ist - sitzen hier alle zusammen: die Fischer, die nicht ausfahren können, die jungen Männer des Ortes, die frustrierten Touristen. Die Urlauber aus Mailand, die nur einen Tag lang Linosa besuchen wollten, schimpfen - sie sitzen fest auf dieser langweiligen Insel. Rosa tröstet: morgen zwar nicht, aber übermorgen wird bestimmt wieder eine Fähre gehen, und überhaupt, im Winter ist das alles viel schlimmer. 1980 zum Beispiel, im Dezember, ist die Insel für drei Wochen ohne Verbindung zur Außenwelt gewesen - eine Woche Streik auf der Fähre, zwei Wochen Sturm, dann endlich hat ein Militärhubschrauber Verpflegung eingeflogen.

Giacomo am Nebentisch grinst: er besucht die Insel seit mehr als zwanzig Jahren. Er weiß, daß hier der Rhythmus des Lebens noch anders ist, das man sich selber daran anpassen muß. Und er ist froh über Linosas Abgeschiedenheit, die geholfen hat, eine Eigenständigkeit zu bewahren, die einzigartig für Siziliens Inseln ist - auch wenn das für ihn bedeutet, daß er in den nächsten Tagen auf den Fischfang verzichten muß, weil niemand aus dem winzigen Hafen auslaufen kann.

Nach vielen ausgegebenen Runden - morgen ist ja nichts zu tun - und vielen erzählten Geschichten wird klar, daß auch die Linosani um den Wert ihrer Eigenständigkeit wissen. Sie wollen keine großen Hotels, verkaufen keine Grundstücke mehr an Fremde - die Überfremdung der anderen kleinen italienischen Inseln war ihnen Warnung genug. Und, das betonen sie, mit dem Leben auf Linosa sind sie zufrieden. Keine Luftverschmutzung, kaum Autos, keinerlei Kriminalität, ein Lebensstil nach ihrem eigenen Rhythmus - einem, der woanders schon lange außer Mode gekommen ist: dafür nehmen sie ein bescheidenes Leben gern in Kauf.

Natürlich, wären da nicht die sechs oder acht Wochen Touristensaison im Sommer, würde es recht schlecht aussehen. Die Linosani aber sorgen schon dafür, daß das Geld der Touristen auf der Insel bleibt. Ein Hotel gibt es zwar, und eine kleine Bungalowsiedlung - ansonsten wird aber nur privat vermietet. Und weil die Gäste neben Zimmer und Familienanschluß auch noch das Essen bekommen, haben auch die Restaurants von Fremden kaum eine Chance. Wer nicht von seinen Vermietern bekocht wird, kann in der einzigen Trattoria der Insel essen. Ein einziger langer Tisch steht im Raum. Wein und Essen sind einfach, aber gut, die Portionen bodenständig riesig. Kartoffeln aus dem Garten mit selbst eingelegten Kapern, eigene Tomaten, der Fisch, mit Knoblauch in Öl gebraten, natürlich auch aus heimischen Gewässern. Da kann am Ende des Raumes ruhig ein Fernseher brüllen - Berlusconi's Privat-TV kann bei diesem Essen nicht stören.

Die Selbstversorgermentalität der Insulaner ist immer noch sehr ausgeprägt. Einige genügsame Kühe, ein Weingarten, Felder mit Getreide und Hülsenfrüchten, im Hof ein paar Hühner und Kaninchen, ein Boot zum Fischen, im Sommer die Zimmervermietung - das ist eine Welt die überschaubar ist. Selbst für Michele ist hier Platz, den Dorfidioten, an dessen seltsamen Gesängen und wirren Geschichten sich niemand stört; Michele, der niemals Schuhe trägt, so wie früher alle auf der Insel. Eigen sind die Linosani in vielen Punkten, und immer auf angenehme Weise. Auf der Nachbarinsel Lampedusa haben sie den Spitznamen "Die Schweizer" weg. Das liegt nicht nur daran, daß die Insel im Gegensatz zu Lampedusa hügelig ist: Linosa wird fast pingelig saubergehalten. Das fängt bei den Bürgersteigen an, die von den Hausfrauen regelmäßig geschrubbt werden, und hört bei einer fast müllfreien Landschaft noch nicht auf. Es mag Sparsamkeit sein - aber selbst die wenigen knatternden Mofas der Jugendlichen werden beim Bergabfahren ausgestellt...

Ein bleifarbener Himmel, ein graugrünes Meer, das den Landungssteg immer wieder überspült, salzige Gischt, die der Wind bis zu den ersten Häusern peitscht: wirklich kein schöner Tag. Der Morgenkaffee bei Rosa dauert deshalb recht lange, nach und nach kommen alle wieder vorbei: die Fischer, Giacomo aus Roum und selbst die Mailänder. Im Laufe des Nachmittags flaut der Scirocco ab. Mit dem Wechsel des Windes werden auch die letzen Wolken vom Himmel gefegt, das Meer aber hat sich immer noch nicht beruhigt. Der kleine Hafen und der Landungssteg für die Fähren werden noch immer von der Gischt der Wellen übersprüht - kein Gedanke an ein Bad. Aber Rosa weiß, wie immer, guten Rat: Auf der entgegengesetzten Inselseite, bei den Klippen der Faraglioni, ist auch bei starker Brandung ein Bad möglich.

Bei den Faraglioni gleicht die Küste einer Mondlandschaft. Eine urgewaltige Brandung tobt noch immer gegen die Felsen. Das Schauspiel ist hypnotisierend: Das Meer leuchtet vielfarbig im Sonnenlicht, seine Farben changieren von dunklem Blau zu Hellblau, von Türkis zu Hellgrün, gelblich schimmern Algen. Über die Blöcke und Klippen der Lava, zu bizarren Formen zernagt, tiefschwarz oder dunkel braunrot, stürzt sich donnernd die Brandung, zerstiebt zu meterhohen Gischtfontänen, rollt in immer neuem Ansturm an, um sich in blendend weißen Sturzbächen über die Felsen zu ergießen. Wie ein Wall aber schützen die Klippen, die die Faraglioni bilden, ein seichtes Becken, und der überschwappende Schaum der Wogen verwandelt es in einen großen Whirlpool prickelnder Blasen.

Den einzigen wirklichen Strand der Insel findet man unweit des Ortes, dort, wo der Schlackenkegel des Monte Nero wie abgeschnitten jäh hinab zum Meer stürzt. Die Erosion hat die geologischen Schichten, die diesen Teil der Insel bilden, freigelegt. Schwarze, rote, graue und gelbe Asche, von Wind, Meer und Regen zu Skulpturen geschliffen, schichtet sich übereinander, dazwischen ragen Klippen aus wiederstandsfähiger Lava, wie der Schwanz eines Drachen geformt, in die Luft. Der ständig herabrieselnde feine Grus bildet einen kleinen pechschwarzen Strand, die Cala Pozzolana, Brutstätte einiger der letzten Meeresschildkröten.

In den Tälern im Inneren der Insel, von steil aufragenden Vulkankegeln gut vor dem Wind geschützt, staut sich die Hitze. Die Erde ist noch jung hier, scharfzackige Lavaklippen bedecken weite Strecken, notdürftig verhüllt von derben Feigenkakteen, zartem gelben Mohn und weißen Doldenblütlern. Knallgelbe Flechten setzen Akzente in diese seltsame Landschaft, kahl ragen die roten und schwarzen Aschekegel der Vulkane, von dürftigem Gesträuch nur stellenweise bedeckt. Dazwischen, dort wo die Vulkanasche zu fruchtbarem Boden verwittert ist, liegen die Gevierte der Felder, auf denen Gerste wächst und die berühmten Linsen der Insel. Überall aber wuchern Feigenkakteen, wild, auf den Feldern, als Windschutz gepflanzt, die sonst inselüblichen schwarzen Mauern ersetzend. Mit dem Haumesser in kleine Portionen geschnitten, werden die stachelbewehrten Opuntien an die Kühe verfüttert. Regen ist eine Seltenheit auf Linosa, und Heu ist dementsprechend rar.

Neugierig schauen die Passagiere nach Lampedusa vom Deck ihres Schiffes herunter auf dieses Inselchen mit den bunten Häusern inmitten der schwarzen Felder und Hügel. Die Fähre aus Porto Empedocle entläßt die Wagenladungen mit Waren, nimmt ein paar Linosani auf, die wegen Bankangelegenheiten oder anderen Geschäften nach Lampedusa mitfahren müssen - und die Mailänder, die sichtlich froh sind, diesen für sie viel zu ruhigen Ort verlassen zu können. Nachdem das Schiff den Hafen verlassen hat bringen die Fischer ihre Boote wieder ins Wasser, fahren in den morgendlichen Dunst, den die über den Hügeln aufsteigende Sonne rötlich färbt.

Ägadische Inseln (Isole Egadi), 1988

Favignana

Der Garten vor der Tür liegt im blauen Dämmerlicht, das Schmettern der Vögel aber läßt keinen Zweifel: wenn wir den Sonnenaufgang über Sizilien sehen wollen, müssen wir jetzt aufstehen. Die Luft ist noch kühl, feucht vom Morgentau, aber schon erfüllt vom Duft der Orangenblüten. Fleissig bewässerte Orangen und Zitronenbäume wachsen hier, Mispeln und Aprikosen, Pinien, Artischocken, Knoblauch und Küchenkräuter - und dennoch liegt der Garten viele Meter tief unter der Oberfläche von "La Piana", dem Ostteil von Favignana. Wie fast alle Gärten der Insel ist er ein aufgelassener Tuffsteinbruch - die rötlichen Steilwände, in deren Schutz alles so gut gedeiht, zeigen noch immer die Schlagspuren der Arbeiter.

Ein knatterndes Mofa überholt unsere Fahrräder, ein freundliches Winken, dann sind wir wieder allein in der Stille des Morgens, Lerchengesang von weitem. Flaches Land, durchzogen von Tuffsteinmauern, dahinter Felder, Wiesen, vereinzelt ein Ferienhaus am Straßenrand, Geruch von Pinienharz und Kuhdung. Dann gibt es nur noch die wild zugewucherten, verlassenen Steinbrüche: Favignana als Schweizer Käse. Wir erreichen Bue Marino gerade zum Aufgang der Sonne über den Hügeln Siziliens. Der Dunst über dem Meer ist zuerst noch rotgefärbt, wird schnell gelblich und löst sich dann ganz auf. Nur Meer und Möwenschreie in den Klippen, der fantastischen Architektur der Steinbrüche. Trampelpfade, kaum befahrbar, stellen an unsere Fahrräder, Hinterteile und Kondition höchste Ansprüche, schließlich bleibt nur noch Schieben übrig. Aber der Anblick der Cala Rossa lohnt die Mühe: klares, türkisfarbenes Wasser, in der Ferne, über dem Blau des tiefen Wassers, Levanzo, die Nachbarinsel. Schwer vorzustellen, daß dieses so friedliche Meer Zeuge einer Tragödie geworden ist: auf seinem Grund ruhen die Reste von 120 versenkten Schiffen, die Karthago hier in der letzten, entscheidenden Schlacht des ersten punischen Krieges hier verloren hat - 241 v.Chr. Die Legende sagt, daß die Bucht damals ihren Namen erhalten hat, daß die Felsen vom Blut der Gefallenen rot gefärbt wurden. Jetzt allerdings färbt lediglich das Licht der frühen Sonne die wilden Klippen. Das nagende Meer und jahrhundertelanger Tuffabbau haben eine bizarre Landschaft geformt: halbversunkene Steinbrüche sind zu Swimmingpools geworden, lange Gänge durchbohren die Felsen, wilde Kapernsträuche klammern sich an einsam stehende Felssäulen.

Die Thunfischfänger von Favignana haben auf dem großen Platz vor der "tonnara", den Lagerhallen für Netze, Bojen, Anker und Gerätschaften im Hafen, riesige Netze ausgebreitet. In langer Reihe stehen sie, um die Netze zu inspizieren, Löcher zu flicken und schließlich die Netze in die langen, schwarzen Schaluppen zu legen. Nach monatelangen Vorbereitungen können sie jetzt beginnen, nach jahrhundertealter Tradition das riesige System aus Netzkammern aufzubauen, in dem die Thunfische gefangen werden sollen. Irgendwann gegen Ende Mai erreicht dann der erste Thunfischschwarm auf seiner Laichwanderung die kilometerweiten Sperrnetze, wird dann von Kammer zu Kammer in die "camera del morte", die Todeskammer, getrieben, um dort abgeschlachtet zu werden. Für manche ist diese "mattanza" ein faszinierendes Schauspiel, für andere ein ekelerregendes Gemetzel - für die "tonnaroti" aber harte Arbeit - und eine immer weniger lukrative Verdienstmöglichkeit. Dennoch arbeiten sie im Bewußtsein, zu den Letzten ihres Gewerbes zu gehören, sind stolz auf ihre jahrhundertealte Tradition, auf teilweise wohl noch aus arabischen Zeiten stammende Riten und Gesänge. In den letzten Jahren aber, so erzählen sie, haben die Meeresverschmutzung und die Hochseefangflotten aber die Zahl der gefangenen Thunfische arg zurückgehen lassen. Als Touristenspektakel aber könnte die "mattanza" noch eine Weile überleben.

Noch ein anderer traditioneller Beruf droht auf Favignana auszusterben - der des Gefängnisaufsehers. Seit jeher waren die Egadi Gefängnisinseln, Verbannungsorte für politische Gefangene. Berühmte Männer des Risorgimento waren auf Favignana gefangen und ihre Berichte sind wahre Gruselgeschichten. S.Caterina, oben auf dem Hügel weithin sichtbar, ist glücklicherweise schon lange geschlossen. S.Giacomo, mitten im Ort von Favignana gelegen, dient aber immer noch als Gefängnis. Ein Ort, den man sich weigern möchte wahrzunehmen, eine hohe graue Mauer im Ferienparadies, ein Ort, über den auch die Favignanesi nicht gerne reden. Glücklicherweise ist das jahrhundertealte Gebäude mit seinen unterirdischen Verliesen, das hinter den Betonmauern versteckt steht, baufällig, und so wird die Strafanstalt in absehbarer Zeit aufgelöst.

Große Auswahl gibt es im Restaurant "da Matteo" an diesem Abend nicht - das Meer war zu unruhig, Fisch ist an diesem Tag kaum gefangen worden, und das eigene Boot ist noch unterwegs, um pünktlich zum Wochenende frische Langusten und Hummer von den Untiefen vor Pantelleria zu fangen. Alte oder tiefgefrorene Ware aber mag Matteo seinen Gästen nicht vorsetzten - lieber hält er sein Restaurant geschlossen. Aus einheimischen Gewässern muß der Fisch stammen, genau wie möglichst alle anderen Zutaten auch - das ist Restaurantphilosophie. Dabei ist Matteo selbst gar kein Sizilianer, er stammt aus Apulien, seine Frau aus Piemont. Die Küche aber ist sizilianisch, mit einheimische Zutaten. Die eher apulischen "spaghetti al ricci di mare" schmecken auch mit sizilianischen Seeigeln - ganz intensiv nach Meer. Ganz sizilianisch, und fast genauso geschmacksintensiv sind die "spaghetti al nero di seppia", der begehrte Mundschwärzer mit Sepiatinte. Feinere Genüsse sind dagegen die hausgemachten Nudeln mit Schwertfisch und Auberginen, der Risotto mit Hummern, die Krabben vom Rost - der Weißwein, der uns dazu serviert wird, ist jung und kräftig, trotzdem ganz unaufdringlich. Schade, daß noch keine Saison ist - auf frischen Thunfisch müssen wir leider verzichten. Dabei ist der vor Favignana gefangene so gut, daß ein Teil des Fanges sogar direkt nach Japan gebracht wird. Und auch eingesalzenen Thunfischrogen, eine andere Spezialität der Insel, mag uns Matteo nicht servieren - der ist nur in der zweiten Hälfte des Jahres gut. Dafür aber genießen wir jetzt eine Aufmerksamkeit und Gastfreundschaft, die im überfüllten Sommer so wohl kaum möglich sein wird.

Draußen, auf der Piazza Madrice, geht die Blaue Stunde, die Zeit für die "passegiata", den allabendlichen Bummel durch die Stadt, ihrem Ende zu. Nach und nach verschwinden die Gruppen untergehakter junger Mädchen, die Pärchen und Familien mit Kleinkindern. Jetzt konzentriert sich das Geschehen auf die Bars,der Piazza. Irgend ein Anlaß zum Feiern findet sich, eine Gitarre, ein Tamburin, ein paar Runden Bier - und das Night-life made in Favignana kann beginnen. Besonders die Männer der Tonnara sind Meister im Improvisieren von Festen, zudem stimmgewaltige Sänger, die auch Touristen einzubeziehen und aufzutauen wissen - ganz besonders natürlich die weiblichen.

Levanzo

Gerade einmal fünf Minuten braucht das Tragflächenboot, um uns die kurze Strecke von Favignana nach Levanzo zu bringen. Ebenso rasch zieht eine dunkle Wolke auf, und kaum haben wir das Anlegemanöver im Hafen beendet, bricht der Platzregen auch schon los. Der kurze Sprint bis zur nächsten Deckung reicht schon aus, uns bis auf die Haut zu durchnässen. Kaum haben wir uns unter einen abgestellten LKW gehockt, da lacht auch schon wieder - schadenfroh - die Sonne, der Regenschauer zieht übers Meer, Richtung Sizilien.

Nach unserer Trocknung in der einzigen Pension der Insel erkunden wir das bisschen Levanzo-Ort. Nicht einmal mehr dreihundert Menschen leben in den weißgekalkten Häusern, die sich unter kargen Felsen und steilen Hängen in der Cala Dogana drängen. Immerhin, es gibt einen Tabakhändler, winzige Geschäfte, zwei geschlossene Restaurants und zwei offene Bars, Refugium kartenspielender älterer Herren. Beim Espresso werden wir gut beraten - zur Cala Minnola sollen wir gehen, dann zurück über die Ebene im Inselinneren, und abends, unbedingt, zum Sonnenuntergang am Faraglione, der Levanzo vorgelagerten Klippe im Westen.

Wir machen uns auf den angegebenen Weg, durch den Ort, vorbei am Friedhof, dem wummernden Dieselmotor des E-Werks, vorbei an der felsigen Cala Fredda. Ein von der Schotterstraße abzweigender Pfad führt uns in das Reich der halbkugelig wachsenden Wolfsmilch, deren hüfthohe Kuppeln in allen Schattierungen von gelbgrün bis rostrot die Landschaft dominieren. Dann eine Pineta, harzig duftender Schatten, schließlich die steinerne Landungsstelle der Cala Minnola: ein einsames Boot unter fleckenlos blauem Himmel, Sizilien am Horizont. Zurück geht es durch Pineta und Macchia, kräuterduftende Hitze, ein kurzer Anstieg, dann erreichen wir die Ebene im Inneren von Levanzo. Wenige Häuser stehen inmitten blühenden Unkrauts, die Viehweiden sind von Margeriten gelb übersprenkelt - noch hat die Sommerhitze nicht alles zu braunem, staubigen Gebüsch verbrannt. Der Mann, der eine kleine Herde unwilliger Schafe melkt, entpuppt sich als der Besitzer des Kramladens unten im Dorf. So wie er selbst, erzählt er uns, leben die Levanzesi von allem Möglichen: Fischfang, Zimmervermietung im Sommer, Bootsfahrten mit den Touristen, ein wenig Gartenbau für den Eigenbedarf, Ricotta und Käse für den Verkauf im Laden oder auf dem Festland. Wir fragen, ob auch Wein angebaut wird - am Horizont ist immerhin Marsala sichtbar. Leider nein - aber der Signore macht ein Tröpfchen für den Eigenbedarf, das wir unbedingt probieren müssen. So legen wir den steilen Weg zurück ins Dorf mit seinem betagten Fiat zurück, einem der wenigen Inselautos, halten schließlich vor seiner Cantina.

Glücklicherweise ist es dann nicht allzuweit vom Ort zum Faraglione. Über dem Weg ragen steile Felsen. Anspruchslose Scabiosen mit großen lilafarbenen Blüten, struppige Kapernsträucher, wenige Feigenkakteen können hier noch wachsen - die Südwestseite der Insel ist trocken und öde. Gruppen von Agaven recken ihre blassen, blaugrünen Blätter der tiefstehenden Sonne entgegen, im gleißenden Licht auf den Wellen hebt sich die dunkle Silhouette Marettimos ab. Das Licht wird weicher, die Hügel von Favignana gegenüber färben sich rötlich, während wir an einem winzigen Strand mit weißen Kieseln sitzen, gegenüber der felsigen Möwenburg des Faraglione. Ihre rauhen Schreie in der Stille des sich lila färbenden Himmels.

Der Weg, auf dem wir in der Mittagshitze durch die karstige Macchia marschiert sind, verzweigt sich zu zahlreichen Trampelpfaden. Es geht sehr steil im Zickzack meerwärts - dann stehen wir, am Fuß einer tropfsteinbedeckten Felswand, erwartungsvoll im Schatten des "Vorzimmers" der "Grotta del Genovese". Signore Castiglione, der Kustode, hinter dessen Esel wir die ganze Strecke hinterhertrotten durften, entzündet eine Gaslampe, öffnet die Eisentür, die den Höhleneingang versperrt. Wir folgen ihm durch einen engen Gang ins Dunkle, in den Schoß der Erde. Entfernt tropft Wasser, die zischende Lampe wirft fahles Licht auf die Wände mit den Zeichen in Schwarz und Rot, die durch ein jahrtausendelanges Schweigen zu uns reden. Stilisiert zu kantigen Stichen die Männer, violinartige Torsi die Frauen, Stiere, ein großes Tier an einem Strick, ein Thunfisch, ein Delphin - die Welt eines neolithischen Stammes, gemalt vor vielleicht 6000 Jahren. Dann führt uns Signore Castiglione ein paar Schritte weiter, hält die Lampe dicht an den Felsen, und im unruhigen Licht werden noch ältere Bilder sichtbar, eingraviert in die Felsen, als Levanzo und Favignana noch keine Inseln waren, vor mehr als 10 000 Jahren. Hirsche, Esel und Stiere in lebendigen, sicheren Linien, dazwischen die seltsamen Figuren dreier maskierter Menschen, tanzend durch Dunkelheit und Schweigen.

Marettimo

Kinder rudern ein Boot im Hafen von Marettimo, ihr Lachen durchdringt die Stille der Dämmerung. Ein ganz leichter Wind bewegt die lilafarbene Fläche des Meeres, bringt den kühlen Geruch von Salz und Algen, den schwachen Hautgout von Fisch. Dazwischen atmet die gespeicherte Hitze des Tages aus den Steinen. Der scharfe Geruch von Thymian mit seinen blaßblauen Blüten dominiert, darübergelager, sanft, ein wenig betäubend, der Duft von rosa und weißen Zistrosen.

Mare - Meer - und timmo - Thymian- läßt sich leicht aus dem Namen der Insel herauslesen. Auch wenn die Ableitung nicht ganz korrekt sein mag - die Araber nannten die Insel "Malitimah" - sie kennzeichnet dennoch sehr treffend die Doppelnatur dieser entlegensten der Ägadischen Inseln. Das Inselinnere ist das Reich des Thymian, der wilden Kräuter und seltenen Pflanzen, die in der steilen Bergwelt der Insel versteckt leben, geschützt durch undurchlässige Macchia und schroffe Felsen, in die nur wenige zugewucherte Pfade führen. Mare - das ist das unendliche Blau ringsum, die wahre Heimat der Marettimari, dieser so ganz aufs Meer eingestellten Menschen. Schon zehnjährige Jungen sind geschickt Fischer, deren Gesprächthemen nicht Autos sind, sondern Boote und Außenbordmotoren. Was sie noch nicht können, bringen ihnen die Halbwüchsigen bei, oder die Alten - die Männer der Insel sind oft lange abwesend, wenn nicht als Fischer, dann als Besatzung auf Fähren und Frachtern. Die in ihrer schmucklosen Kantigkeit abweisend wirkenden Häuser Marettimos, zusammengedrängte Gassen unter den steilen Hügeln, sind vom Licht der gerade aufgehenden Sonne rotgefärbt. Auf einer Bank im Hafen sitzt eine alte Frau und unterhält sich mit Mann und Söhnen über den Fischfang der vergangenen Nacht - per Funkgerät. Das ruhige Wetter muß genutzt werden. Solange wie möglich sind die Männer unterwegs, denn das Leben der Fischer ist nicht gerade einfach. Dabei haben es die Marettimari zu einigem Wohlstand gebracht, im Vergleich zu früheren harten Zeiten. Auf alten Bildern sieht man noch die Männer in offenen Segelbooten, vollgeladen mit Schwämmen, die sie vor den Küsten des nahen Afrika gefischt hatten. Und die enormen Muskelpakete auf den Oberarmen der alten Männer erzählen von der Zeit, in der man bei Flaute sieben Stunden rudern mußte, um den Fisch zu den Aufkäufern in Trapani zu bringen. Viele Marettimari mußten damals auswandern, gingen nach Amerika, wurden Fischer in Kalifornien, vor Neufundland oder Alaska, und viele kehrten zurück, bauten Häuser, kauften Kutter und gründeten eine Genossenschaft - so kam ein bescheidener Wohlstand auf die Insel.

Am späten Nachmittag liegt nur noch ein Teil des steilen Weges, der zu den "Case Romane" führt, in der Sonnenhitze. Wir folgen teils dem Schotterweg,teils dem alten, blumen - und unkrautüberwucherten Maultierpfad. Marettimo mit seinem charakteristischen Doppelhafen liegt bald tief unter uns. Ein verwilderter Mandelhain, eine Pineta, üppig wuchernde Kräuter und Sträucher bezeugen den Wasserreichtum Marettimos, Schwärme von Schmetterlingen flattern über den Weg. Dann liegt eine alte Kirche vor uns, den Vermutungen nach aus dem neunten Jahrhundert stammend, vom Stil her normannisch. Und gleich nenbenan stehen die Ruinen "Case Romane", wahrscheinlich Reste eines römischen Außenpostens.

Wir aber gehen weiter, vorbei am Wasserwerk, hinauf zum Pizzo Falcone, mit 686 m der höchste Berg der Insel. Der kaum noch sichtbaren Pfad führt durch die Macchia aus Rosmarin, Erika und der auch hier üppig wuchernden Wolfsmilch. Dann beginnen die Wolken, die sich über den Berggipfeln aufgebaut haben, zu senken, und bald sind wir in dichte Nebelschwaden gehüllt, in denen jedes Geräusch verstummt. Manchmal nur blitzt von unten hell das Meer herauf, gewährt einen kurzen Blick auf sonnenbeschienene Wellen. Unmöglich, weiterzugehen - wir müssen wieder absteigen, bei dem losen Geröll auf den Pfaden zuweilen eine recht rutschige Angelegenheit. Dann endlich verlassen wir den Bereich des unheimlichen Nebels, und unter uns liegt wieder der Ort, im letzten Sonnenlicht.

Ähnlich unzugänglich zeigt sich ein großer Teil der Insel. Selbst der Pfad zur Festung von Punta Troia ist teilweise recht schwierig. Ein kleiner Strand, kurz vor dem letzten Aufstieg und eine phantastische Aussicht entlang des Weges lohnen jedoch die Mühe. Einfacher, wenn auch recht lang, ist der Weg zum Leuchtturm von Punta Libecchio auf der unbewohnten Westseite der Insel. Ein hübscher Pinienwald, Ausblicke über steile Hügel, bei klarem Wetter über das Meer bis hin nach Sizilien und seltene Pflanzen am Wegesrand machen diese Tour recht interessant. Und schließlich zeigt sich die andere Inselseite in einem gänzlich anderen Gesicht: schroffe Wände aus Dolomit vermitteln den Eindruck, Marettimo sei ein ins Meer gefallenes Stück Alpen, und die verlassene, nur karg bewachsene Landschaft scheint schon außerhalb der Welt zu liegen. Auf der ins Meer vorgeschobenen Felszunge unterhalb des Leuchtturms ist man dann wirklich am Rande der Welt: Hinter dem Horizont liegt Afrika.

Processione dei Misteri di Trapani - Karfreitagsptozession von Trapani (1988)

Karfreitagsptozession von Trapani

Weiße Orchideen, Rosen, Schleierkraut - endlich ist der Blumenschmuck für die hölzerne Tragbahre der Statuengruppe "Aufstieg zum Kalvarienberg" angekommen. Die Mitglieder des Ceto del Popolo, schon seit zwei Tagen mit dem Schmücken "ihrer" Figurengruppe beschäftigt, können jetzt, am Karfreitag vor Tagesanbruch, letzte Hand anlegen.

Die Kirche San Domenico ist gedrängt voll, denn auch die Mitglieder der anderen Innungen versuchen, die traditionell ihnen gehörenden barcken Statuengruppe der Processione dei Misteri von Trápani so prächtig wie möglich zu schmücken.

Giuseppe Savona, der capoconsolo des Ceto del Popolo, ist sicher, daß auch in diesem Jahr seine Gruppe die schönste, die am meisten bewunderte und geliebte sein wird. Nicht nur, daß der "Aufstieg zum Kalvarienberg" die schwerste und größte vara ist - die barocken Holzfiguren, der Silberschmuck, Kerzen, Blumen und das Tragegestell wiegen etwa 26 Zentner. Schließlich gehört sie auch dem ganzen Volk, nicht nur einer einzelnen Innung. Und so sind die Spenden in den letzten Monaten reichlich geflossen; auch die Stadtverwaltung, die angesehenen Familien, die Banken haben sich ihren gesellschaftliche Pflichten nicht entzogen.

Gegen Mittag ist die Stadt voller Menschen. Zu den Einwohnern Trápanis mit der Verwandtschaft aus Übersee oder dem Norden Italiens, die für den großen Tag nach Hause gekommen ist, stoßen Touristen und Besucher aus den nahegelegen Orten und von den Inseln. Vor dem Portal der Kirche drängen sich Fotografen und die Videoteams von Radio Scirocco auf der Pressetribüne. Die Carabinieri haben alle Hände voll zu tun, all die Neugierigen vom Betreten der Kirche abzuhalten.

Durch einen Seiteneingang strömen die Protagonisten der Prozession: Die masari, Träger in blauen Uniformen, kleine Heilige Veronikas, Kapuzenträger, Trommler. Dazwischen die würdigen Herren von der Unione delle Maestranze, bemüht, Ordnung zu schaffen und zusammen mit den besorgten Müttern ängstliche kleine Jungen und Mädchen zu beruhigen und die größeren im Zaum zu halten.

Genau um vierzehn Uhr öffnet sich das Portal der Kirche, Trommelwirbel der rotgewandeten, mit weißen, spitzen Kapuzen verhüllten Trommler der Confraternita di San Michele kündigen die Prozession an. Der Zug der zwanzig Figurengruppen mit Darstellungen der Passion Christi strömt aus dem Dunkel der Kirche hinaus, für einen Tag, eine Nacht und noch einmal einen halben Tag.

Abends stehen die vare auf der Piazza Vittorio Emanuele, im neueren Teil der Stadt. Zeit für Träger und Musiker, in den umliegenden Restaurants und Trattorien zu essen, Zeit für Michele aus dem Begleitzug des Ceto del Popolo, sich mit seinen Freunden auf dem Jahrmarkt neben der Piazza zu treffen. Die Gruppe des Ceto del Popolo ist die lange Via G. B. Fardella einmal hinauf und wieder hinunter gezogen.

Jetzt geht es zurück in die Altstadt, die Musiker der bandas hören auf, Trauermärsche zu spielen, der ganze begleitende Troß löst sich auf. Wer jetzt noch dabei ist, gehört dazu; die Fassade, die Show, ist abgebröckelt. Die Füße der Pilgerinnen - viele von Ihnen barfüßig - schmerzen, die Schultern der Träger sind wundgerieben. Aber der Zug geht weiter, im immergleichen synchronen Wiegeschritt der annacata. Das Klappern der hölzernen ciaccula ist Erlösung, Pause für einen kurzen Moment.

Die Nachtstunden werden lang, endlos, der Zug scheint in die Zeitlosigkeit zu entgleiten. Fast vierhundert Jahre, seit der Gegenreformation, gibt es die  Processione dei Misteri, davor die Prozession des Cilio. Und davor, vielleicht auch im antiken Drepanum zu Füßen des Venusheiligtums Erice, gab es jedes Frühjahr einen Trauerzug für Adonis, den Geliebten der Venus. Doch jetzt ist es der Christus mit dem Kreuz auf den Schultern, der Last des Leides der Welt, um den getrauert wird. Die Last der hölzernen Tragholme ist nur ein kleiner Teil davon.

Die Müdigkeit schwindet ein wenig mit der Dunkelheit, im Morgenlicht gesellen sich verschlafene kleine Engel zu den Trägern der Ceti, die Stadt wird von den Tönen der bandas geweckt. Letzte Stunden, dann, gegen Mittag, die letzten Meter. Der ganze Ceto del Popolo kommt zusammen, auch die Honoratioren im schwarzen Anzug, denn die letzten Meter sind besonders ehrenvoll, besonders schwierig. Die vara muß gedreht und die Stufen zum Portal emporgehoben werden. Es sind pathetische Meter, schmerzverzerrte Gesichter, Applaus der Menge. Dann die plötzliche Dunkelheit der Kirche, Umarmungen, Tränen der Erleichterung, der Freude, der Trauer, daß es vorbei ist: "Wir haben es wieder geschafft - bis zum nächsten Jahr."

Nordypern (1989)

Nordzypern

Das endlose Gerstenfeld leuchtet im Licht der tiefstehenden Sonne, wiegt sich im Wind, der über die Mesaoria, die große Ebene Zyperns, bläst. Zwischen den beiden Gebirgsketten Troodos und Besparmak hat sich die Gerste bereits Ende April gelb gefärbt, die Tage sind heiß und staubig.

Während ich auf das "Fünffingergebirge" Besparmak zufahre, verändert sich die Landschaft. Große Felsschollen, zwischen denen an manchen Stellen ein schmales Handtuch von Gerstenfeld gequetscht ist, ragen empor. Ein riesiger Pflug scheint dieses Land umgepflügt zu haben. Dann folgen sanfte Hügel, Felder und Weiden wölben sich am Fuß des Gebirges. Das dunkle Grün der Olivenbäume und das silberne Flimmern ihrer Blätter im Wind akzentuiert das gelbliche Grün der Felder, das schnell verblaut, im Dunkel versinkt wie die große Ebene tief unten, in der die Lichter von Nikosia durch den Dunst flimmern.

Erstaunlich vielgestaltig ist die Insel - die große Ebene, brettflach und kahl, die Gebirgskette der Kyreniaberge steil aufragend, mit großen, schattigen Bergwäldern und kahlen, alpinen Felswänden, das Hügelland am Fuß der Berge, die duftenden Orangen- und Zitronenhaine von Güzelyurt. Lange, einsame Strände und belebte Hafenstädtchen, majestätische Burgen und die verlassenen Säulen der Ruinenstädte - allem gemeinsam ist eine Ruhe und Stille, die einen glauben macht, hier gingen die Uhren noch anders als im übrigen Teil der Welt.

Über den Bergen der Kyreniakette sind Wolken aufgezogen, die die Gipfel verhüllen. Im malerischen Hafen von Girne, dem früheren Kyrenia, leuchtet dagegen die Sonne auf die Yachten, die Cafés an den Kais, die Häusern mit ihren charakteristischen Balkonen. Nicht umsonst gilt die Stadt an der Nordküste als die schönste Zyperns, der Hafen als einer der schönsten der Levante. Hier ist auch das touristische Zentrum Nordzyperns, mit Hotels und Casinos, Restaurants und Cafés. Auch das Zentrum der englischen Gemeinde befindet sich hier - etwa 500 Briten haben die Insel zum Dauerdomizil gewählt. So mischt sich mediterraner Stil seltsam mit der Atmosphäre englischer Seebäder, knorrige Engländer mit den Besuchern vom türkischen Festland.

Die mächtigen Mauern der Hafenfestung von Kyrenia, die schon viele Herrschaften überdauert haben, bestimmen das Bild des Hafens. Eine Rampe führt in den Innenhof der Festung aus dem 9. Jahrhundert, die gewaltigen Mauern erdrücken schier eine winzige byzantinische Kapelle. Demonstrativ weht auch hier die türkische Flagge neben der nordzypriotischen, und schon leicht verrostete Ständer für Geschütze erzählen von der neueren Geschichte Zyperns. Die Festung dient jetzt jedoch friedlichen Zwecken, in ihrem Inneren beherbergt sie die Überreste eines im dritten Jahrhundert gesunkenen Schiffes - sogar das Geschirr der Besatzung ist erhalten geblieben.

Inmitten einer großen Gartenlandschaft von Orangen- und Zitronenbäumen liegt Güzelyurt, das frühere Morphou. Selten einmal verirrt sich ein Tourist in die kleine Provinzstadt. Ich suche nach einer Tankstelle - und schon erlebe ich wieder einmal die unvergleichliche Hilfsbereitschaft der Zyprioten. Ein Emigrant aus London - dort hat jeder nordzypriotische Ort seine Dependance - lotst mich nicht nur zur Tankstelle, er lässt es sich auch nicht nehmen, mir seine Stadt zu zeigen. Dort ist gerade die Schule beendet, und ich bin die beste Gelegenheit, für die kleinen Jungen, ihr Englisch auszuprobieren. Selbst ein kleines Mädchen in Schuluniform findet den Mut, mir ein "Hello, what is your name" zuzurufen, bevor es, erschrocken über den eigenen Mut, die Händen vor die Augen schlägt und davonhuscht.

Die Männer vor dem Kaffeehaus haben alle Zeit der Welt für sich. Lässig auf einem der Korbstühle sitzend, die Füße auf einen anderen Stuhl gelegt, die Arme ebenfalls aufgestützt, schauen sie interessiert auf alles, was da die Straße entlang kommt, warten auf Freunde, die sich auf ein Schwätzchen zu ihnen setzen, vielleicht eine Runde Tavla um den nächsten Kaffee mit ihnen spielen. Im staubigen Inneren des Cafés sitzen zwei Damespieler nachdenklich über ihre Bretter gebeugt, um plötzlich im blitzschnell Schlagabtausch ein lange vorausberechnetes Manöver auszuführen.

Fremde sind hier selten gesehene Gäste, seit der Landung türkischer Truppen im Jahr 1974 und der danach beginnenden internationalen Isolierung Nordzyperns haben sich die Touristenströme in den Südteil der Insel verlagert. Dementsprechend groß ist die Neugier auf den Fremden - und Gastfreundschaft ist immer noch eine Tugend. Undenkbar, den Mokka zu bezahlen, der zusammen mit einem Glas Wasser auf einem runden Blechtablett bald vor mir auf einen Stuhl gestellt wird. Wie hier findet sich auch sonst fast immer jemand, der noch zur Zeit der Briten oder als Emigrant Englisch gelernt hat. Notfalls würden wir uns, so gut es geht, mit Händen und Füßen über Zypern und die Welt verständigen.

Spitz zulaufend streben die gotischen Fensterbögen der Abtei Bellapais zum Himmel. Keine Wände, die sie durchbrechen, kein Dach über ihnen, das Maßwerk bis auf Reste herausgebrochen : der helle, gelbe Stein ist nur noch reine Form. Die dunklen Silhouetten der Zypressen im Innenhof des Klosters verstärken dieses Streben nach oben, zur Transzendenz, nur noch. Die richtige Ruhe zur Kontemplation will sich bei mir jedoch nicht einstellen – zu viele andere wollen ja auch diesen zauberhaften Ort sehen. Also durchstreife ich das Dorf Bellapais, den Schauplatz von Lawrence Durrell's Buch "Bittere Orangen". Nun, der berühmte "Baum des Müßiggangs", ein Maulbeerbaum, dessen Schatten die Glücklichen, die sich unter ihm niederlassen, zu lebenslangem Müßiggang verzaubert, steht nicht mehr. Inzwischen mühen sich mehrere Bäume, jeweils mit dazugehörigem Kaffeehaus, um seine Nachfolge...

Den echten Müßiggang kann man aber durchaus noch finden, die Männer im Schatten vor den Kaffehäusern, lässig die Beine auf einen Stuhl gebreitet, die Arme auf zwei anderen... Aber Michaelis mit dem buschigen Schnurrbart, der verrückte Frango und all die anderen Bewohnern des Dorfes, liebevoll beschrieben in Durrells Buch, findet man nicht mehr hier: Bellapais war vor 1974 ein griechisches Dorf. Gegen Sonnenuntergang kehre ich zurück zum Kloster, finde das Kreuzgewölbe eingetaucht in goldenes Licht. "Noch die Ruinen von Bellapaix legten Zeugnis von jenen Menschen ab, die, wenn auch unvollkommen, versucht hatten, dies zu fassen und festzuhalten: die innere Substanz der Phantasie, die im Gedanken, in der Kontemplation wohnt, in jenem Frieden, der einen Teil des ursprünglichen Namens der Abtei gebildet hat..." (Lawrence Durrell, Bittere Limonen)

Zurück in die Realität holt mich ein angenehmer Duft: direkt im Garten des Klosters liegt ein Restaurant, das neben der romantischen Lage und dem Blick auf die Küstenebene auch noch leckeres zypriotisches Essen bietet. Den Abend beginne ich mit Meze, dieser schier unendlichen Reihe leckerer Vorspeisen. Kleine Teller von appetitanregend gewrzten Salaten erscheinen auf dem Tisch, eingelegte Gemüse, Pickles, Oliven und Dips- Cacik, griechisch Tsatsiki - Hummus, eine Sauce aus Kichererbsen und Tahin, eine würzige Sauce aus Sesam. Pilze im Teigmantel gebacken, Blätterteigröllchen (Börek) mit Fleisch, Gemüse und Minze, folgen. Ich kämpfe mich durch bis zur Hauptmahlzeit - im Lehmofen geschmortes Kebab - und erst ein türkischer Mokka macht noch Platz für die leckeren Süßspeisen, die zum Abschluss eines türkisch-zypriotischen Mahls gehören. "Nach zehn Tagen fühlte ich mich wie eine Straßburger Mastgans." (Lawrence Durrell).

Landkartenklein unter mir liegt die Ebene, das dunkle Grün der Olivenbäume fleckt die Felder, wenige Orte leuchten weiß, ganz fern schimmert das Meer. Über mir heben sich die Mauern der Festung Kantara hell gegen den Himmel ab. Sie ist Teil des byzantinischen, von Kreuzrittern weiter ausgebauten Verteidigungssystems der Insel. Im Westen der Insel liegt St. Hilarion die ehemalige Sommerresidenz der Lusignans, Könige von Jerusalem, die die Insel 1192 von den Kreuzrittern des Templerordens gekauft hatten. Romantisch liegt die Burg oberhalb des Passes von Nicosia nach Kyrenia. Mit ihren Mauern, Zinne und Türmen sozusagen der Prototyp einer verlassenen Burg, ist sie ein Muss für alle Zypernbesucher. Buffavento, die mittlere der Bergfesten, hat den Zeiten und dem Wind nicht getrotzt - sie ist stark verfallen.

Kantara jedoch ist in ihrer Verlassenheit ehrfurchtgebietend, einsam auf dem östlichsten Gipfel der Kyreniakette ragend, die sich im blauen Dunst verschwimmend, vor mir erstreckt.Dies ist ein Ort, der einen in seine eigenen Träume einspinnt. Lange gehe ich durch die leeren Ställe, die verfallenen Türme, schaue den riesigen Eidechsen auf den Ruinenmauern zu - Basilisken vielleicht, oder Wächter der Burg, die in sicherer Deckung verschwinden, sobald ich, der Eindringling in ihr Reich, einen unsichtbaren Bannkreis um sie herum überschreite ...

Erst das Rufen des Muezzins, das der Wind aus der Ebene zu mir herauf weht, durchdringt eine Stille, die hier schon Jahrhunderte gewährt hat. Eine holprige Straße führt mich durch einen dichten Wald von Kiefern und Erdbeerbäumen, dann windet sich die Straße in endlosen Serpentinen hinab zur Ebene.

Lang wie ein Pfannenstiel erstreckt sich die Halbinsel Karpass vor mir nach Osten . Sanfte Hügel, kleine Wälder, Macchia, dazwischen Olivenhaine, Felder und Dörfer: hier ist Nordzypern noch ganz ursprünglich. Und das in einem Sinn, den man vielleicht so nicht erwartet hätte: hier leben immer noch rund 700 griechische Zyprioten neben ihren türkischen Nachbarn, läuten die Kirchenglocken, sitzt der Pope im Kafenion. Und weil das türkische Militär, das bis vor kurzem noch einige Teile der Halbinsel besetzt hatte und auf dem Rest der Insel deutliche Präsenz zeigt, sich zurückgezogen hat, wird der Frieden hier durch nichts gestört: grüne Täler mit still grasenden Schafherden, Ödland mit Orchideenrasen, einsame Strände, kaum oder überhaupt nicht erschlossen. Gleich hinter Yeni Erenköy findet man den ersten Strand: Aliens Friends Beach, feinsandig, noch ganz leer - abgesehen vom Strandgut der Winterstrme das vor der Sommersaison noch nicht weggeräumt worden ist. Noch einsamer ist dann der nächste, weiter westlich gelegene Strand, der nach kurzem Marsch erreichbar ist - Sardinengedränge wird man hier sicher noch lange nicht erleben.

Nach langer Fahrt, durch eine schlechte Straße zur nötigen ruhigen Betrachtungsweise gezwungen, erreiche ich kurz vor der äußersten Ostspitze den Traumstrand der Insel: den Golden Beach. Zu Fuß durchquere ich eine Dünenlandschaft. Feiner, weißer Sand, mit windzerzausten Büschen durchsetzt, Dünen, signiert mit den zarten Trippelspuren von Eidechsen und Vögeln, Rhododendronsträucher mit den ersten Blüten, dann ein feiner, goldener Strand, flach ins Meer abfallend, der sich kilometerweit erstreckt. Kein Hotel, keine Strandbar, kein Sonnenschirm in Sicht - nur Wellen, Sand und Sonne.

Duda heißt das Schwein, das dösend neben dem Stuhl liegt, auf dem die alte Griechin sitzt. Mit einem Stock klopft sie seine Schwarte, ein wohliges Grunzen ist die Antwort. Ganz eindeutig ist das ein Beweis dafür, dass hier Griechen leben, und keine türkischen Moslems. Sonst ist der riesige Hof des Klosters Apostolos Andreas verlassen, leere Stille ringsum. Eine Heerschar von Katzen sitzt vor dem Eingang zum Polizeiposten, bei dem ich mich registrieren lassen musste und aus dem jetzt leise Geräusche von Sprechfunk dringen.

Dann kommt ein Auto: Der Pope aus Rizokarpasos, das jetzt Dipkarpaz heißt, ist hierher an die äusserste Inselspitze gekommen, um die wenigen Alten, die hier noch leben, zu betreuen. Meine Augen gewöhnen sich an das Dunkel in der Kirche des Klosters, erkennen die Abbildungen der Heiligen, das silberne Leuchten der Ikonostaste. Dann znden die alten Frauen Kerzen an, zieht der Pope sein Gewand über: die Messe beginnt, nach immer gleichem, jahrhundertealten Ritual.

Das mächtige Bollwerk der venezianischen Festungsmauern beschützt das verschlafene Leben Famagustas, einer Kleinstadt mit Handwerksbetrieben und Staßenhändlern, die ganz selbstverständlich zwischen den Ruinen mächtiger Kirchen ihren Geschäften nachgehen. Viel mehr ist vom Glanz der einst ungeheuer reichen Stadt nicht geblieben, seit die osmanischen Streitkräfte 1571 die letzte christliche Bastion Zyperns erobert haben. Von außen ist die prachtvolle Fassade der ehemaligen Kathedrale von Famagusta reinste Gotik - wären da nicht die Minaretts auf den Türmen, die wie angeklebt wirken. Das Innere der Lala-Mustafa-Moschee ist weiß getüncht, Koranverse zieren die Säulen, und quer zur Hauptachse der ehemaligen Kirche des hl. Nikolaus liegen die Gebetsteppiche. Noch während ich das Innere der Moschee bestaune, erklingt das volltönende "Allahu akhbar" des Muezzins - es ist Zeit zum Abendgebet, und die Männer mit ihren Gebetskappen beugen sich vor der Kulisse gotischen Maßwerks in Richtung Mekka.

Stille, durchdrungen vom metallischen Sirren der Zikaden, liegt über Eukalyptusbäumen, Kiefern und dürrem Gras, Hitze flirrt über staubigen Wegen und Mauerresten. Schwer vorstellbar, das hier einst Salamis gelegen hat, mit schätzungsweise 200 000 Einwohnern eine der blühendsten Städte der Antike. Zwischen den Mauern von Kampanopetra, einst eine der größten Basiliken der byzantinischen Welt, leuchten Mosaike aus Schutt und Gräsern. Das Meer lockt unverschämt blau, nur wenige Meter entfernt liegt der Sandstrand - da verschiebe ich die weitere Erkundung der Ruinen doch lieber auf einen späteren Zeitpunkt.

Wolkenschleier verdecken die tiefstehende Sonne, nur gelegentlich dringt rötliches, unwirkliches Licht hervor als ich zurückkehre nach Salamis, um im späten Abendlicht die Säulen des Gymnasiums zu sehen, die Statuen, die die Reste der alten Wasserbecken umgeben, das Halbrund des antiken Theaters. Der Ort verwandelt sich im Zwielicht, die Nacht färbt bereits die alten Mauern und Säulen blau, als unerwartet der Vollmond aus dem Meer steigt - der Zauber der Insel hat mich endgültig in seinen Bann geschlagen.

Lyrik

Lebenslauf

Lebenslauf

Alles was ich weiß ist
Dass ich eine biologisch abbaubare
Verkörperung von Bewusstsein bin
Von vorübergehenden Widersprüchen
Eine Konstruktion aus Konzepten und Knochen.
Ein Wirbel aus Berührungen und Sehnsucht
Der zu dir kommt

Das glorreiche Ent-Werden umarmend
Das stets flüstert, dicht an unserem Ohr
Und uns auffordert, zu tanzen
Um herauszufinden
Was es bedeutet, sich zu ergeben
Dem Anderen zu Begegnen
Fingerspitzen

Fingerspitzen

Auf Fingerspitzen gehe ich
Über die Haut deiner Sehnsucht
Ins Dunkle, Volle, Un-Erhörte.
Mein Mund malt Raubküsse
Auf alle deine Versiegelungen
Schneckenorgasmen, Flüstern,
Härchen, Ungeschickte Süße und Salz.

All dieses Dazwischen ergibt sich
Dem Abgrund unserer Augenblicke
Und duldet nur Antworten.
Fadenscheinig

Fadenscheinig

Ganz fadenscheinig bin ich schon geworden,
Doch schäme ich mich nicht;
Ich trage mich mit Würde.
Schau ruhig hin:
Durch diesen alten Lumpen scheint
Ein Anderes Licht.
Ernte

Ernte

Komm, lass in schwelgerischen Räuschen uns genießen
Was von des Sommers langer Herrlichkeit geblieben ist,
Und trunken wie die Wespen in den Birnen uns verlieren
In Tagen ganz aus Himmelblau und gelben Blättern.

Ich muss mich schütteln bis ich platze,
In einem süßen Regen reifer Früchte;
In meinem Übermaße will ich mich verschenken,
Und nicht mehr fragen, wer mich ernten mag.
Novemberwolken

Novemberwolken

Ein Grau-Gewöll vor Blau
verdichtet sich zu Flächigem,
läuft dann in etwas Helles aus
das ahnen lässt
dass es einst licht und warm
gewesen ist.

Der Herbst ist tief;
er will mich innehalten,
und leise gibt mein Herz ein Ja
zum Abschied von der Sehnsucht,
um wieder einmal
wesentlich zu werden.
Blau

Blau


Lass uns den Ozean erreichen
Und tiefer als das Blau des Himmels werden.
Die Linie des Horizonts ist keine Grenze,
Sondern der Sehnsucht Schiff, ein Segel,
Unser Wind, der uns hinausreißt,
Über uns hinaus und aus dem fest Geglaubten,
In das erschrecken der Unendlichkeit.
Das Meer, das tiefe Blau, in dem wir ertrinken,
Um wieder Welle zu sein, wiederzukehren,
Wenn wir atemlos am Strand liegen,
Zerschmettert von unseren Schiffbrüchen.

Lass unsere Stürme an diesem Strand verebben,
In einem stillen Wogen, einem sanften Wind,
Einer Erinnerung, die unsere Füße küsst,
Während wir gehen, im feuchten Glitzern,
In dieem weiten Saum aus Licht,
In dem die Elemente sich berühren,
Die Grenzen zwischen uns gebrochen werden;
In den Gezeiten unserer Zärtlichkeit.

Dann lass uns eintauchen, endlich,
In den unendlichen Rhythmus des Meeres,
Unvorstellbar älter als die Trommel unserer Herzen,
In sanftes Wogen und atemloses Verschlingen.
Wieder und wieder, Welle um Welle,
Die sich über uns bricht,
Uns mit salzschmeckender Lust füllt,
Duft von Algen, von quellendem Leben, Gischt.
Langsam eröffnen sich uns Muscheln,
Und wir tauchen hinab in die Spiralen der Schnecken,
In blaue Stille, tiefer als das Blau des Himmels..
Nest

Nest

In einem Nest aus schwarzen Locken
Begriff ich dich: Deine Hand.
Die Zartheit deiner Handgelenke
Stellte mir Fragen.
Mein Herz aber pochte ohne zu fragen
Gegen den Käfig meiner Rippen
Und wollte gehalten werden
Von diesen Händen.
Noch bevor du mir deine Adresse gabst
Schrieb ich eine Ode an deine Schulterblätter.

(Für K.W.)
Schneetag

Schneetag

Ein Tag, erfülllt mit blauem Schnee und Schweigen.
Nichts ist zu tun, und nichts zu hoffen,
Als mit mir selbst allein und still zu gehen.

Der Bach. Der Schnee. Die nasse Erde.
Ein kaum erahnter Pfad, verwischte Spur.
Im Rhythmus meiner Schritte weben sich Gedanken,
Und zärtlich wie der Schnee singt leis mein Atem
Ein Lied von meiner Einsamkeit.

Und lauschend schenkt sich ein Geheimnis mir -
Ganz offen, bar,
Weil es auf keine meiner Fragen
Die Anwort ist.
Ein neues Lied

Ein neues Lied

Der Frühling kam auch ohne sie,
Ganz einfach so,
Und war nicht aufzuhalten;
Das ist halt seine Art,
Mit gelbem Rapsgestank am Stadtrand
Und lauem Flieder in der Nacht.

Er lässt mir kleine Hörner wachsen,
Er stielt die Augen mir;
Ganz unverschämt bemerk ich wieder
Die Schönheit kaum verhüllter Haut,
Ich seufze leise, aber tief, ein Ach.
Und überall flattern die blauen Bänder.

Der Sonne warmer Kuss auf meiner Haut,
Lässt ahnen mich, lässt fragen mich,
Ob nochmals neu
Die Liebe mir geschenkt wird,
Und wieviel Nächte, immer noch,
Ich fröstelnd alten Schmerz bedauern soll.

Da ist ein Lachen, das mich ruft,
Es klingt wie ich,
Es klingt - wie du.
Ein neues Lied, noch kaum geübt:
Ich schenke mich dem Leben.
Alles auf Anfang.

(Für L.)
Contapunctus XIV

Contapunctus XIV

Wer sind wir denn,
Die kurz nur zappeln,
In dieser Besten aller Welten?
Was wollte uns, wer fragte uns,
Nur kurz zu Sein,
Und wieder Nichts zu werden?

Ein Zufall nur, ein Zwischending,
Affen mit Potential,
Die glauben gern?
Sinnlos zu fragen,
Und doch, vielleicht,
Sind Antwort wir,
Strenge Herrin

Srenge Herrin

Die Wirklichkeit ist eine strenge Herrin,
Zerschindet mir das arme Herz
Mit ihrem abgrundtiefem Lachen.
Ich weiß, das Leben ist ein Spiel,
Doch leider hab das Safeword ich vergessen.

Die Sehnsucht ist, wie stets, bankrott.
Sie weigert sich, selbst einen Kuss noch mir zu schenken.
Nur die verdammte Muse küsst mich noch:
Ihr geh'n die Worte scheinbar niemals aus,
Die wärmen mir mein kaltes Bett so gut.
Julikirschen

Julikirschen (eine wahre Geschichte)

Hab ich denn wirklich noch geglaubt
Der Frühling wäre ein Versprechen?
Längst ist schon Sommer, und ich pflück
Mit klammen Händen erste Kirschen .

Und wünsche mir, sie ihr zu schenken,
Und Küsse, bis sie zu mir sagt,
Das Leben sei zu kurz und kalt,
Um es noch weiter ganz allein zu leben.

Missbilligend verraten mich die Krähen
An eine herrenlose Dämmerung.
Ich spucke Kerne
Hoch hinauf zu ihnen,
Und zu den rosaroten Wolken hin.
Noch'n Gedicht

Noch'n Gedicht

Hier stehe ich und kann nichts anderes
Noch'n Gedicht

Noch'n Gedicht

Hier stehe ich und kann nichts anderes
Noch'n Gedicht

Noch'n Gedicht

Hier stehe ich und kann nichts anderes